Techcrunch berichtet in Google’s Cerf Says “Privacy May Be An Anomaly”. Historically, He’s Right. über diverse Äußerungen von Vinton Cerf (Wikipedia). Er sagt, dass der Begriff der Privatsphäre und Privatheit historisch gesehen ein sehr neues soziales Phänomen ist. Da mag er ja Recht haben. Aber die Errungenschaft der Privatsphäre als Anomalie zu bezeichnen, deutet darauf hin, dass er es als normal empfindet, wenn es keine gibt.
Die Aussage irritiert mich. Unglücklicherweise stößt der Autor des Artikels ins gleiche Horn und vergleicht das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, ebenfalls mit dem sozialen Aspekt der Privatsphäre. Dabei kommt er zu einem erstaunlichen Schluss:

[…] The more sustainable solution maybe to rekindle the social norms we had around tolerance. Like Cerf, I lived in a small town (in Brazil); knowing everything about everyone else isn’t the end of the world. In some ways, it’s beneficial. We often suffer alone unnecessarily.
Perhaps, there is something in our history that can help us adapt to a life that is, once again, radically transparent. […]

Das Schlimme daran ist die Tatsache, dass im Artikel so leichtfertig mit verschiedenen Graden und Arten von Privatsphäre umgegangen wird; sie werden gar gleich gesetzt. Wenn ich in einem kleinen Dorf lebe, in dem die geringe Privatsphäre sich in dem öffentlichen Wissen äußert, wann ich in welcher Kneipe war (und der Rest meines Lebens vielleicht verborgen bleibt), dann ist das eine Sache. Dann kann ich zum einen dem Dorf entkommen (und meine Privatsphäre damit schützen) und zum anderen hat das Wissen nicht die ganze Welt.
Wenn aber Google „Evangelisten“ so ein Zeug reden, dann geht es um öffentliches Wissen über mich, dem ich nicht mehr entkommen kann, das global bekannt ist, das von Leuten, von denen ich nicht weiß, was sie über mich wissen, missbraucht werden kann. Und noch schlimmer: das Wissen über mich kann automatisch (d.h. maschinell) mit anderem Wissen verknüpft werden. Das ist eine völlig andere Dimension als die Geschichten in dem kleinen Dorf.
Bin ich da etwas zu kleinlich? Oder ist der Autor des Artikels naiv? Und dass Cerf mit dem folgenden Satz gerade noch mal die Kurve zu kriegen versucht, macht seinen „Anomly“-Spruch auch nicht besser:

[…] “So I’m not saying that we shouldn’t be interested in privacy, but I am suggesting to you that it’s an accident, in some respect, of the urban revolution,” concludes Cerf. […]

Will heißen: auch wenn ich (Cerf) Privatsphäre als „Anomalie“ bezeichne, müssen wir (denke: Google) natürlich dennoch daran interessiert sein. Natürlich.

Ich bin wahrlich kein paranoider Mensch. Aber wenn ich solche Äußerungen von Leuten lese, die auf Petabytes an Daten sitzen, dann wird mir schummrig. Mit wäre lieber, wenn jemand die Geschichte der Privatsphäre als Anomalie bezeichnen würde und die Errungenschaften von heute als endlich erreichten Standard – wenn auch nicht Idealzustand. Dann würde man wenigstens an der Aussage ein Denkmuster erkennen, das eine gute Richtung erkennen ließe.

Mein analoges Notizbuch wird garantiert privat bleiben. Auch wenn damit nur ein geringer Teil meiner Privatsphäre abgedeckt ist.

Ähnliche Artikel in der gleichen Kategorie:


Kategorie: Allgemein
Du kannst den Kommentaren zu diesem Artikel folgen, wenn du den entsprechenden RSS 2.0 Feed abonnierst. Du kannst eine Antwort schreiben, oder einen Trackback von deiner Seite setzen.
5 Antworten
  1. Peter sagt:

    Ich habe den Artikel vor einiger Zeit auf TC gelesen und mich furchtbar aufgeregt. Sowohl über Cerf als auch über den Autor.
    Damals als auch heute ist das was ich aus meiner Privatsphäre preisgebe vergänglich…. solange es nicht digital gespeichert wird.
    Menschen vergessen, Erinnerungen verblassen und das ist für jeden Menschen gut!
    Ich denke im nicht digitalen oder nicht digitalisierten Leben haben wir einen anderen Grad an Privatsphäre. Auch wenn diese auf Grund der Durchdringung der schneller zusammen schmilzt als Schokoeis im Sommer – es gibt sie da draußen.
    Und man sollte die Privatsphäre bewahren und beschützen. Durch analoge Notizen in einem Notizbuch oder das die Bilder vom letzten Freitag nicht bei Facebook landen.

  2. Willie Brandl sagt:

    Hallo Herr Mähler,

    Gratulation zu der Einschätzung!

    Es ist manchmal schon irritierend, welchen Denkhorizont manche Vertreter der digitalen Revolution so haben. Und auch erschreckend, da solche vermeintlichen Visionäre oft schon Wegbereiter kruder Weltanschauungen wurden.

    Deshalb ist es auch nötig, daß man sich frühzeitig und kompetent mit solchen Entwicklungen auseinandersetzt. Deshalb Danke für den Kommentar.

    Willie Brandl

  3. Lutz sagt:

    Ich finde diese Aussage und auch die Argumentation schlichtweg schockierend. Privatheit und informationelle Selbstbestimmung deshalb abzuwerten und als „Anomalie“ zu bezeichnen, nur weil sie relativ neue Werte sind, ist erschreckend.
    Mit dem gleichen Argument könnte man letztlich auch die Abschaffung der Sklaverei als „Anomalie“ bezeichnen, oder den Sozialstaat oder die Menschenrechte.

    Google und alle anderen Internet-Konzerte leben von Information. Das ist ihre Währung und entsprechend haben sie ein großes Inmteresse daran, möglichst viele Informationen über die Nutzer – also uns alle – zu sammeln. Damit verdienen sie ihr Geld.
    Dann aber auf solche Weise dem Nutzer quasi das Recht abzusprechen, eine Kontrolle über seine Informationen, seine Daten auszuüben, ist unverschämt.

  4. Angelika sagt:

    Interessantes Interview gestern auf DRadioKultur zum Thema Persönlichkeitsschutz und Privatheit mit Prof. Beate Rössler, Philosophieprofessorin: http://www.deutschlandradiokultur.de/persoenlichkeitsschutz-wer-ich-bin-bestimme-ich.954.de.html?dram:article_id=270998.
    Sie meint: „Und warum in unserer Gesellschaft eigentlich noch nicht, so wie Sie das vorhin gesagt haben, die Leute für Privatheit auf die Straße gehen, ist eigentlich nicht ganz erklärbar. Ich glaube, es ist einfach alles noch zu abstrakt“ und fordert privacy by design, also „…dass Privatheit von vornherein in die Apparate, die Privatheit verletzen können, eingebaut wird.“

  5. Stefanie sagt:

    Guter Artikel, vielen Dank!
    Es mag stimmen, dass Gemeinsinn und geteiltes Leben von unschätzbarem Wert sind. Doch nur vom anderen zu wissen, wie es im Falle von digitalen Daten im Netz nun mal der Fall ist, ohne auch tatsächlich mit zu leben, vielleicht auch als soziales Netz fungieren zu können, entbehrt jedes Sozialen, hat nichts mit Gemeinsamkeit oder Zusammenhalt zu tun.

Schreibe eine Antwort

XHTML: Du kannst diese HTML Tags verwenden: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>