Der Himmel ist knallblau, die späte Junisonne scheint warm auf die Stadt, alle Menschen sind an der Alster, an der Elbe oder im Biergarten. Das denke ich, als ich den fensterlosen Bunker an der Feldstraße betrete. Wer bitte geht an einem Abend wie diesem freiwillig in den Bunker? Noch dazu, wenn Brasilien spielt und es hier nur um Tagebücher geht? 
Der Bunker ist Austragungsort für den dritten Geburtstag des Hamburger Diary-Slam und für die Taschenbuchausgabe von „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen“ von Ella Carina Werner und Nadine Wedel, den Gründerinnen des Diary Slam in Hamburg.

Wer also hat sich auf den Weg gemacht? Scharen von jungen Frauen in den Zwanzigern. Frauen mit langem Haar, eckiger Brille, mit Nasenpiercing, Blümchenschal, Spaghettiträgern, Babybauch, iphone und/oder Becks Gold im Anschlag, mit Riesenhandtaschen und – man höre und staune! – dem einen oder anderen Mann im Schlepptau, gelegentlich sogar der Mutter. Ehe es losgeht, simmert der ausverkaufte Saal von Stimmengewirr, Gezwitscher wie in einer Spatzenhecke.

Das Publikum brennt darauf, sich vor Peinlichkeit zu krümmen, wenn Sätze fallen wie „Bitte lieber Gott, lass mich einen Freund bekommen, ehe ich 16 bin, am liebsten den Benni“ (Nadine) oder „Nudelessen mit Moni. Abends effektive Aussprache“ (Sebastian) oder „Da ist es mir so richtig eiskalt übers Herz gelaufen“ (Petra) oder der schnörkellosen Selbstbeobachtung von Ivonne: „Ich liege auf dem Sofa und poetisiere“. Es wird gejohlt, ab und an gibt es Szenenapplaus oder Zwischenrufe wie „was ist denn aus Moni und dir geworden?“

Wie lässt sich das Interesse am Gefühlsgestammel von Jugendlichen aus den 80ern und 90ern erklären? Warum schießen von Berlin bis Donaueschingen, von Hamburg bis Otterndorf oder München die Diary-Slams aus dem Boden? Was treibt erwachsene Menschen am Sommerabend in den Bunker? Wie kommt es, dass die literarischen und psychischen Verwerfungen der Jugendzeit an die Öffentlichkeit gezerrt und von einem wachsenden Publikum mit Enthusiasmus gefeiert werden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen leeren Kirchen, einem überalterten Theaterpublikum und dem Erfolg von Diary-Slams? Welche Gefühle stecken hinter dem Gejohle und dem glückseligen Fremdschämen? Welche Funktion erfüllen diese Veranstaltungen? Einfach nur Unterhaltung?

Mhm. Fragen über Fragen. Jetzt seid Ihr dran!

Die drei überzeugendsten Antwortkommentare hier im Notizbuchblog erhalten je ein Exemplar von „Neuerdings schreibe ich an mich selbst, 26 Arten, ein Tagebuch zu führen“, meiner bei X17 veröffentlichten Anleitung für Tagebuchschreiberinnen und –schreiber. Die Verlosung endet am 27. Juni 2014 um 18 h.

Rechtsweg völlig ausgeschlossen…


© mit freundlicher Genehmigung, Nadine Wedel, http://www.diaryslam.de/
Die Personen auf den Bildern haben der Veröffentlichung zugestimmt


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6 Antworten
  1. wildgans sagt:

    Es entsteht ein grandioses Lagerfeuergemeinschaftsgefühl. Alle fühlen sich wild und lebendig.
    Bei meiner Mutters Kaffeeklatschen kam ein solches Intimgefeuere nach …zig Kirschwässerchen auch zustande- lange her.
    Das ist los!
    Gruß von Sonja

  2. Sabine K. sagt:

    Köstlich!
    Also ich habe gerade beim lesen des Artikels schon vor mich hingeschmunzelt. MEINE Tagebucheinträge von anno Tobak klingen so ähnlich ;-) Und wenn ich mal wieder meine, ich muss aufräumen und mir fallen die gesammelten Werke in die Hände, bin ich erst mal nicht ansprechbar und komm aus dem Schmunzeln und in Erinnerungen schwelgen nicht mehr raus :) Es gibt nichts schöneres! Das Erinnern ists, dass man sich selbst wiedererkennt, nostalgische Gefühle…Toll!!!

    Liebste Grüße
    Bine

  3. Nicole M. sagt:

    Ich denke, es gibt nichts ehrlicheres als Tagebucheinträge. Die ungebremste Realität in Form einfacher oder poetischer Sätze, ungeschönt und direkt, da niemand unbedingt damit rechnet, dass jemand Fremdes die Einträge jemals lesen würde. So spricht jeder Eintrag dem Schreiber frei aus dem Herzen. Herrlich!

  4. Lorena sagt:

    Ich denke, es hat damit zu tun, dass die Tagebücher die Jugendzeit abdecken. Man weiss noch schemenhaft, dass man selber auch aus heutiger Sicht etwas peinlich war. Köstlich ist es, wenn es schwarz auf weiss in einem Tagebuch verewigt ist. Man erkennt sich in diesen Tagebucheinträgen selbst wieder. Also nicht unbedingt nur Fremdschämen…

  5. Lorena sagt:

    Nachtrag, hab den Schluss vergessen hinzuschreiben: Also nicht unbedingt nur Fremdschämen, man schämt sich auch ein wenig für sich selbst, als man noch ein Teenager und ähnlich drauf war.

  6. Sabine K. sagt:

    Ich wollte nur kurz Laut geben, dass mein Exemplar wohlbehalten angekommen ist und ich mich drauf freue, es mir nun zu Gemüte zu führen :)
    Vielen lieben Dank noch mal!!

    Liebe Grüße
    Bine

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