Die naheliegende und erwartbare Antwort lautet: für mich allein und für niemand sonst. Wer nicht gerade Schriftsteller oder Journalist mit Auftragsarbeit ist, schreibt in der Regel nicht für eine potenzielle Leserschaft, sondern sehr privat in ein von fremden Blicken gut geschütztes Buch. Aber was genau heißt eigentlich ´für sich schreiben´? Wer ist mein Gegenüber, wenn ich schriftlich meine Gedanken sortiere, mein Notizbuch als Kummerkasten oder Mülleimer benutze oder die Erlebnisse des Tages nicht nur im Kopf sondern auch auf Papier festhalte? Gibt es vielleicht heimliche Adressaten, deren Existenz mir nicht bewusst ist. Gibt es eine Instanz, die irgendwie mit im Spiel ist, während ich mich für mutterseelenallein halte? Oder gilt nach wie vor die Anrede: „liebes Tagebuch!“, und die Frage ist damit erledigt?

Der Schriftsteller Peter Tamm sagte vor zwei Jahren in der ZEIT: „Aber so gerne ich Tagebücher lese, so ungerne schreibe ich sie. Mir ist die Instanz nicht klar, an die sie sich wenden. Mir selbst brauche ich nichts zu erzählen, und wenn ich an einen anderen Leser, eine andere Leserin denke, fange ich sofort an, mich zu verstellen.“ (ZEIT, 18. März, 2010)

Für wen also schreibt man im Tagebuch? Ich habe keine konsistente Antwort auf diese Frage, vermute aber, dass die Antwort „ich schreibe nur für mich“ zu kurz greift. Unabhängig von jedem Veröffentlichungsgedanken findet beim Tagebuchschreiben ein Dialog statt. Mit wem? Vielleicht mit einem Teil meiner Persönlichkeit, vielleicht mit einem mir nahestehenden Menschen, vielleicht mit Gott, meinem inneren Krititker, dem Kind in mir, vielleicht – und das passiert schneller als man schreiben kann – mit einer zukünftigen Leserschaft, die endlich verstehen soll, wer man in Wirklichkeit war.

Franz Kafka notiert am 7. November 1921 in sein Tagebuch: „Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung. Werde ich von jemand anderem beobachtet, muss ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muss ich mich umso genauer beobachten.“ Schreiben auch wir für Beobachter? Verinnerlichte Beobachter, mit denen wir uns im Tagebuch auseinandersetzen? Vielleicht schreiben wir auch an unser zukünftiges Ich, an den Leser, der wir sein werden, der Jahre später diese Zeilen lesen wird. Ein interessanter Gedanke, den Keith Haring Ende der 70er Jahre folgendermaßen aufgreift: „Etwas in ein Buch schreiben heißt auch Zeit in Schachteln – Seiten – packen …. Zur gleichen Zeit, wo ich hier rede, rede ich auch mit dir zur anderen Zeit, weil ich in Schachteln rede, weil diese Schachteln die Zeit aufnehmen und eine andere Zeit draus machen können. Zeitstücke in Schachteln“ .

Falls sich jemand von euch für solche Überlegungen interessiert und dazu was sagen kann und will, ist die Kommentarbox hiermit geöffnet.

Die Zitate entstammen bis auf das Peter-Tamm-Zitat alle dem Ausstellungskatalog Absolut privat!?: Vom Tagebuch zum Weblog. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung in den Museen für Kommunikation (Werbelink), Edition Braus, 2008.

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8 Antworten
  1. Marie sagt:

    Ich schreibe für mich, vielleicht für einen mir mehr oder weniger unbekannten Beobachter, wer auch immer das sein mag, der mir über die Schulter schaut (ein bisschen lästig).
    Ich stimme Peter Tamm nicht zu, dass man sich selbst nichts zu erzählen brauche, denn beim Schreiben ordnen sich meine Gedanken und mir wird vieles klar, dass ich so nicht beim Hin und Herschieben der Gedanken im Kopf erfahren hätte. Im Kopf drehen sie sich im Kreise, auf dem Papier bilden sich neue Wege zu neuen Gedanken und Ideen.
    Ausserdem schreibe ich für mein zukünftiges Ich. Ich bin beim Lesen alter Texte, die bloss drei oder vier Jahre zurückliegen können, manchmal ziemlich erstaunt über so manche Erkenntnisse oder Vorstellungen, die mir dann wieder entfallen sind, oder erinnere mich an so manch vergessene Situationen, die doch ganz schön ’nachhaltig‘ waren. Und darüber schreibe ich dann vielleicht wieder.
    Für mögliche Leser will ich nicht schreiben. Das ist schliesslich mein privatester Privatkram.

  2. Markus sagt:

    Franz Kafka notiert am 7. November 1921 in sein Tagebuch: „Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung. Werde ich von jemand anderem beobachtet, muss ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muss ich mich umso genauer beobachten.“

    Genauer kann man es kaum noch sagen. Das wiederkäuen von Gedanken, Eindrücke und Erlebtem. Es ist dann schließlich diese Essenz die UNS Seelische-Grösse geben kann.
    Bei mir persönlich wechseln die Beobachter oder die Schreibweise sehr oft, so wie sie gerade aus mir herausfließen.
    Einen Wasserfall kann man nicht aufhalten und ihn beeinflussen kann man auch getrost vergessen :-)

  3. Sabine sagt:

    Ich habe immer ausschließlich für mich selbst geschrieben. Auch heute nehme ich die etlichen Bände noch gern zur Hand und les von vorne bis hinten alles noch mal, erlebe nochmal so einiges mit, was mir im Teenie-Leben passiert ist…

    Irgendwann hab ich mich schon gefragt, wie es sich wohl für mich anfühlt, wenn andere das lesen sollten. Und ich muss sagen, das möcht ich gar nicht.

    Also bleibts für mich allein :-) Nicht mal mein Mann darf da ein bis zwei Augen reinwerfen ;-)

    Liebe Grüße
    Bine

  4. […] immer etwas interessantes und anregendes Rund um das Thema Tagebuch. Heute geht es um die Frage: Für wen schreibst du Tagebuch? Eine sehr interessante Betrachtung, wie ich finde. Für wen schreibe ich Tagebuch?… Bewerten: […]

  5. wortmeer sagt:

    Kann mich in allem Marie anschließen. Genauso geht es mir auch.

  6. hopkins sagt:

    Interessante Frage. Pirmär schreibe ich für mich, um Gedanken in eine Ordnung zu bringen und für mein Zukunfts ich. Aber ich habe kein Problem wenn meine Frau einmal in meinem Tagebuch lesen würde. Ich lasse das aktuelle Buch aus diesem Grund auch immer draußen liegen. Manche Dinge kann ich nicht direkt aussprechen sondern nur aufschreiben. Außerdem bin ich ein komplizierter Mensch und vielleicht fällt es ihr druch das lesen meiner Gedanken einfacher zu verstehen wieso ich manche Dinge So und nicht So angehe.
    Vielleicht helfen sie auch irgendwann meinen eventuellen Kindern ihren komischen Vater zu verstehen :-)

  7. Angelika sagt:

    So viele spannende Kommentare zu diesem Thema! Vielen Dank!

  8. T.M. sagt:

    Hm, interessante Frage.

    Ich würde aber nicht sagen, dass man sich selbst nichts zu erzählen hat. Man vergisst so vieles, und bei manchen Gedanken ist es schön, wenn man weiß, dass sie einem nicht verloren gehen.

    Hauptsächlich ging (oder geht) es mir aber nicht um das Schreiben, um jemandem etwas zu erzählen, sondern um das Schreiben um des Schreibens willen: Dadurch, dass man seine Gedanken (und auch Erlebnisse sind ja, soweit sie einen beschäftigen, gewissermaßen Gedanken) aufschreibt, muss man sie ordnen und in eine Reihenfolge bringen.

    Zwar ist es durchaus interessant, nach einem Jahr nochmal zu lesen, wie man früher gedacht hat, für mich aber nicht der hauptsächliche Sinn der Sache.

    Vor allem aber schreibe ich nicht für andere Leute, sondern nur für mich auch wenn ich zugeben muss, dass ich es insgeheim wohl schön fände, wenn meine Aufzeichnungen die Zeiten überdauern würden, um zu berichten, dass es mich einmal gab.

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