Für fortgeschrittene Tagebuchschreiber mal wieder ein Tipp am TaBu-Dienstag. Eine bekannte Technik aus dem Kreativen Schreiben ist das Verfassen von Porträts. Damit lässt sich wunderbar im Tagebuch experimentieren. Keine persönlichen Erlebnisse, keine Daten, keine Gefühlsausbrüche oder Stimmungsbeschreibungen. Stattdessen die möglichst genaue Charakterisierung einer Person, die mir an diesem Tag einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. So ein Porträt eignet sich gelegentlich auch für das Prinzip „Rache der schreibenden Hand“, Motiv für manchen Tagebucheintrag und eine prima Möglichkeit, sich den Ärger über eine Person vom Leib zu schreiben. Worum geht es?

Eine Person mit Worten skizzieren: ihr Äußeres, ihre Bewegungen, ihre Mimik, ihre Art zu sprechen, typische Verhaltensweisen, Wesensmerkmale und wie sie sich bemerkbar machen, ihr Vokabular, ihre Beweggründe, die wir hinter ihrem Verhalten vermuten …
Mein derzeitiges Lieblingsbuch ist das Buch Der Ohrenzeuge: Fünfzig Charaktere (Werbelink) von Elias Canetti, in dem er fünfzig Charaktere mit Zorn und Zärtlichkeit (Klappentext) in ihren Eigenheiten so skizziert, dass man meinen könnte, der Autor hätte eine neue Psychologie des menschlichen Charakters entworfen. Man erkennt sich und manche Zeitgenossen wieder in seinen Miniaturen, obwohl die Typenbezeichnungen ´Die Tischtuchtolle´, ´der Heimbeißer´, ´die Mondkusine´ oder ´der Höherwechsler´ keine geläufigen Begriffe sind. Ihm geht es auch nicht um Geläufigkeit, das ist ja das Schöne daran! Wer Spaß an Sprache hat, wer gerne mit Worten Porträts malen möchte, dem sei das kleine Buch wärmstens ans Herz gelegt.

Als kleine Brücke zu den letzten beiden Dienstagen, an denen es um Tagebuch und Geld ging, eine Kostprobe aus: Elias Canetti, Ohrenzeugen, Fischer Verlag, 2007,S. 19:

[…] Die Habundgut. […] Mit Geld geht sie sorgsam und zärtlich um, sie gibt nicht mehr als ein Zehntel davon aus und versorgt das Übrige. Sie gibt ihrem Geld zu essen, damit es nicht eingeht. Keinen Bissen tut sie, ohne dass für ihr Geld auch etwas abfällt. […] Die Habundgut bekommt Post und lässt sie ein paar Tage uneröffnet liegen. Sie legt so einen Brief vor sich auf den Tisch und stellt sich vor, dass viel mehr drin ist. Ein bisschen Angst hat sie auch, dass es weniger ist, aber da das noch nie passiert ist und mit der Zeit alles steigt, kann sie warten und hoffen, dass es mehr ist.[…]

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